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Die Götterdämmerung in Wien
Für Heiner Müller. Von Alexander Kluge. Teil 2.
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Die Propagandatrupps des Oberstleutnant Jänicke dagegen sicherten die unentwickelten Negative und Tonmaterialen in einer Garage der Wiener Hofburg. Beabsichtig war die Verfrachtung nach Oslo oder Narvik mit einer der letzten Maschinen, die aus Wien abflogen. Im Norden gab es ein Kopierwerk. Die Aufzeichnung sollte dem Feind entzogen werden und eine letzte Botschaft des kämpfenden Reichs darstellen. Im Gegensatz zu 1918 wurden in diesem Krieg die Körper, die Panzer, die Städte zersprengt, der Geist dagegen blieb unverletzt. Theoretisch, sagte Jänicke, ist der Endsieg auch bei Zerschlagung aller Wehrmittel, allein durch den Willen und geistige Waffen möglich, Vor allem gilt das für die Mittel der Musik.
Die Verfrachtung der "Götterdämmerungs"-Aufzeichnung gelang nicht mehr, weil keine Kraftfahrzeuge für den Transport zum Flughafen zur Verfügung standen.
In- zwischen war die Nacht hereingebrochen. Aus ihren Kellern stiegen die Musiker ins Freie. Infanterie-Unteroffiziere führten sie durch die unter ungezieltem Feuer liegende Innenstadt. Sie erreichten die Busse und wurden (als letzte aus dem sich schließenden Kessel) aus Wien herausge- fahren. Der Morgen grüßte sie in ländlicher Umgebung. Sie wurden auf Bauernhöfe in der Nähe von Linz verteilt und sahen sich wenige Tage später von amerikanischen Trup- pen arrestiert.
Die Filmbüchse in der Garage, noch ord- nungsgemäß beschriftet, wurde von sowjetischen Offizieren sichergestellt und vergessen. Ein georgischer Oberst, der Französisch sprach, übergab den Stapel einem tartarischen Oberstleutnant, der die deutsche Schrift lesen konnte (was er freilich nur zuverlässigen Freuden verriet, nicht den georgischen Kollegen). Der Oberstleutnant ließ das unbelichtete Filmmaterial in seine Garnisonstadt Sotschi bringen, wo es jahrzehntelang im Keller des städtischen Museums aufbewahrt wurde.
1991. nach dem Zusammen- bruch des Imperiums, entdeckte ein junger Komponist, der sich als Beauftragter Luigi Nonos für Rußland bezeichnete, diesen Bestand. Er folgte einem Hinweis in einem Musik- fachblatt der Krim, das im Internet als Einzelseite ange- wählt werden kann. Ohne jemals etwas von dem Material selber gesehen zu haben oder auch nur den Ort zu kennen, an dem es lagerte, organisierte der junge Mann den Transport zu einem Filmstudio in Ungarn, wo er das Material entwickeln ließ. Die Positive wurden nach Venedig gebracht. Absicht war, die Tonspur im 10.Jahr nach Luigi Nonos Tod im Dom von Venedig vorzuführen.
Eine Cutter-Assistentin Jean-Luc Godards, die von diesem Transfer gehört hatte, beharrte jedoch darauf, die Materialen in Paris in den Labors der Cinétype-Studios anlegen zu dürfen, und führte einer Gruppe von Mitar- beitern der Cahiers du Cinéma und der Cinématèque die dreitausend Meter Film in Ton und Bild vor.
Die Wirkung des Materials war nach fünfzig Jahren Lagerung "verzaubernd" ("enchantant"), schreibt Gerard Schlesinger in de Cahiers du Cinéma.
Das 35-mm-Filmmaterial ist durch Selbstbe- lichtung zunächst in Umrissen und in Fehlfarbe entwickelt und durch die anschleißende Entwicklung der unbelichteten Negative im Kopierwerk nochmals entwickelt worden, so daß sich über die Umrisse und Fehlfarben Schatten und Echos gelegt haben. Teile des Materials sind verschrammt und erhalten durch die Beschädigung eine den Thesen Walter Benjamins entgegengesetzten einmaligen Charakter. Die Tonspur zeige, schreibt Schlesinger, eine "grausame Schönheit" oder "so etwas wie Charakter- stärke". Man sollte Richard Wagner immer in dieser Weise "fragmentieren". Eine authentische Lärmspur zeichnet das technische Kamerageräusch und die Artillerie- und Bomben- einschläge auf. Dieser Originalton, das "In-Mitten-Sein", rhythmisiere die Musik Wagners und mache sie von einer Phrase des 19. Jahrhunderts zum EIGENTUM des 20. Jahr- hunderts.
In einigen Bildern sind die Kamera und das Stativ sowie die Tonapparaturen im Bild zu erkennen. Die "Einsprüche der Souffleuse haben die helle Klangfarbe des Ufa-Tonfilms. Die Stimmhöhen in den Tonfilmen jener Zeit scheinen also nicht nur auf Sprecherziehung der Darsteller, sondern auf Regeln der Tonaufnahme zu beruhen."
Ein Fehler wäre es, meint Schlesinger, die Tonfragmente zu mischen. Es steht dadurch - anders als bei der Originalaufzeichnung - ein SCHLECHTER GESAMTKLANG. Die Mischung der Tonteile dokumentierte nur die damalige Absicht der Aufzeichnenden, nicht dage- gen das, was sie getan haben: Es gehe, sagt Schlesinger, um einen genialen Fund, nämlich die SCHÖNHEIT DER FRAGMENTE.
Aufgrund der Intervention der Cahiers du Cinéma werden die dreitausend Meter Film und die über- zähligen Tonfragmente deshalb in insgesamt 102 ge- trennten Stücken vorgeführt. Jedem Bildteil ist jeweils nur eine Tonspur zugeordnet. Wo Bilder fehlen, ist im Kino Konzert ohne Bild zu hören. Der Beauftragte Nonos nahm das Werk auf Anregung der Cahiers du Cinéma in dessen Werkverzeichnis auf. Nicht, was ein individueller Kopf sich an Partituren ausdenkt, ist ein gelungenes Werk, sondern das, was er an Schätzen der Musik findet und bewahrt. Ja, es ist eine Kunst, einen solchen Schatz zu beschaffen. Ich hätte mir eine Telefonkastenstimme, sagte der Beauftragte Nonos, nicht ausdenken können, noch dazu eine, die eine solche Ausdruckskraft besitzt. Es handelt sich um ein Bild-Ton-Werk des 20. Jahrhunderts, das einzigartig ist. "Eigentum ist das Glück, im Menschenleben einmal einen solchen Schatz zu finden."
Bildbeschreibung:
Sie saßen im Hintergrund des Vorführraums im Kopierwerk der Firma Cinématyp Paris. Sie sollten gemeinschaftlich die angelegten Muster (Ton und Bild kombiniert) protokollieren. Es ging um Qualitätskontrolle.
Man sieht überstrahlende Glühlampen an der Kellerdecke und ebenfalls überstrahlende Taschenlampen auf den Notenpulten.
Außerdem leuchten die Wände.
Ja. Die Taschenlampen werden von Zeit zu Zeit ausgewechselt.
Wenn die Batterie gewechselt werden Muß. Es ist zu sehen, daß einige der Lampen bereits schwächer leuchten.
Die Gesichter liegen im Schatten.
Ja, aber die heftige Bewegung der Musiker bewegt die Schatten, so daß etwas "Geistiges" den Raum bewegt hält, die Ahnung von "fleißigen Gestalten".
Staubfahnen, die an den Lampen vorbei niederwehen. Das sind Treffer von Artilleriegeschossen.
Oder Bombentreffer.
Ja.
Die Instrumente müssen von Staub befreit werden. Häufiger als bei Proben in der Oper. Sehen Sie hier: Die Blechbläser-Gruppe, wie sie pausiert und die Instrumente putzt. Es haben sich Staub und Spucke vermischt.
Jetzt muß diese Gruppe auf Takt 486 springen?
Genau. So ist sie jetzt wieder synchron mit den Streichern und der einzelnen Sängerin, die wir, lautsprecherverstärkt, über das Sprechfunkgerät aus dem Nachbarkeller hören.
Würden Sie sagen, daß das "krächzend" klingt?
Wie ein Wehrmachts-Nachrichten-Gerät eben klingt. Auch die Artillerie, hören Sie, klingt in der Übertragung blechern, d.h., tonqualitativ ist es ein Fehler.
Hier geraten jetzt drei von sieben Orchesterteilen auseinander.
Ganz ähnlich wie in den Kirchen des Hochmittelalters. Die Töne wandern in den Raum. Es gibt keinen "Gleichklang".
Nun kann man beim besten Willen nicht sagen, daß die Funksprechgeräte, und hier sehen Sie nur eine Telefonverbindung mit direkt durch Draht angeschlossenen Lautsprechern, einen qualifizierten Raum erzeugen. Es handelt sich eher um einen Anti-Dom.
Aber die Vorstellung des Raums funktioniert um so besser.
Wieso besser?
Denken Sie an die reale Situation. In jedem Moment kann einer der anderen Musikerkeller (oder auch der eigene) getroffen sein und einstürzen. Dann hören Sie nur das das Geräusch der Katastrophe. Die tatsächliche Lage bestimmt die Vorstellung.
Es ist nicht der Klang eines Raums, sonders eines Käfigs?
Natürlich: das Gruppengeräusch vieler Räume. Eine Art Lebensraum, und endlich einmal ist die Musik in den wirklichen Verhältnissen angekommen. Das gelingt ja nicht dadurch, daß ein Symphonieorchester sich in einer Fabrik aufstellt und so tut, als sei das ein Ort für Symphoniekonzerte. Die Fabrik wird unwirklich gemacht, und das ist keine Methode, die Musik wirklich zu machen. Hier aber, in der Notla-ge des Wiener Kessels, entsteht ein neuartiger Klangraum von realer Musik: die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitgeschichte. Die Räume sind die Nachricht. Ich stelle mir in dem Geratter von Musiktönen den Sternenhimmel vor. Etwas Reines, Klares.
Und Sie meinen, das schwebte Richard Wagner vor?
Ich gehe davon aus.
Er gehört aber nicht zum 20. Jahrhundert.
Ein zeitloses Genie ist gewohnt, sich alles musikalisch Wertvolle anzueignen. Hören Sie hier? Das ist die Blechgruppe 4 mit einer Pauke und drei Celli von der rechten Orchesterseite. Das klingt unmittelbar wie Giacomo Meyerbeer, "Die Jüdin", Fünfter Akt, Erste Szene. Wagner hat es daher, und er kommt hier wieder in den rechten Raum: zu Meyerbeer zurück. Musik lässt sich nicht enteignen.
Es klingt "interessant".
"Hinreißend". Der richtige Ausdruck.
Hier ist es dunkel.
Ja, eine Serie von Naheinschlägen hat die elektrischen Kabel zerstört. Ein Teil der Taschenlampen liegt am Boden. Sehen Sie, Infanteristen rennen die Kellertreppe nach oben, die elektrischen Anschlüsse zu reparieren. Etwas sieht man ja mit Hilfe der Taschenlampen, die jetzt wieder an den Pulten befestigt werden. Und da Kerzenlicht, ein Leuchter mit zwölf Kerzen als allgemeines Licht. Nutzlos für das Lesen der Noten am Einzelpult, aber tröstend für den Gesamtraum. Da kommt der Dirigent herein. Er gibt dem ersten Geiger und den zwei Sängern flüsternd Anweisungen. Er hat einen Korb bei sich mit zwölf neuen Taschenlampen und Proviant.
Die übrigen Keller wissen nichts vom momentanen Ausfall dieser Musikergruppe?
Doch. Es wird ihnen zugefunkt. Dort links sehen Sie einen Wehrmachtsfunker. Es sind auch Souffleusen auf die Keller verteilt. Diese hier hat einen ungarischen Akzent und ist von der Operette ausgeborgt.
Hätte man statt der "Götterdämmerung" nicht besser "Rheingold" spielen sollen? Es wäre ein hoffnungsfroher Anfang gewesen. Von der propagandistischen Wirkung her besser als ein Untergangsdrama.
Die in Wien neigten nicht mehr zur Übertreibung und konnten auch nicht mehr lügen. Die das organisierten, waren verzweifelt und voller Trauer.
Ein bewusstes Kunstwerk mit Wahrheitsanspruch?
Insofern, als alle Absichten fehlschlugen und etwas anderes entstand, was kein einzelner wollte. Nie war daran gedacht, daß Luftschutzkeller Kunstwerkstätten werden.
Kaum zu glauben.
Eine Fundsache. Die Hauptleistung bestand darin, diesen Fund in den Kellern des Museums in Sotschi zu machen.
Ob es noch viele solche Fundsachen auf der Welt gibt?
Viele. Sie müssen davon ausgehen, daß seit sechstausend Jahren immer irgendwo etwas versteckt liegt oder vergessen wurde.
Stand 30.04.2004 11:58
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